«Rämm, Tämm, Tämm, Tämm, Tämm, Tämm», die Treppe vom ersten Stock runter, «Schwing», Türe auf, Türe zu, «Flämmtschädder!», Gebälkgezitter, «Knirsch, Knirsch, Knirsch, Knirsch» vom spickenden Kies, «Flapp, Flapp, Flapp, Flapp, Flapp, …», rasch sich entfernende Rennschritte die Asphaltstrasse runter. So ungefähr tönte es, wenn das ehemalige Nachbarsmodi Marleina um exakt 07.37 Uhr und 30 Sekunden jeweils auf den Zug Richtung Gymnasium Burgdorf rannte. Sehr regelmässig. Also fast täglich. Aber offensichtlich erfolgreich, denn heute studiert sie an irgendeiner Uni irgendetwas.
Schaue ich mir – als Bahnhofanreiner fühle ich mich dazu prädestiniert – die tägliche Kunst des Auf-den-Zug-Rennens dataillierter an, stelle ich fest, dass es dafür primär drei Darstellungsformen: die Sprinter:innen, die Sekündeler:innen (zugegebenermassen sind dies Renn-Sonderförmler:innen, aber dazu später mehr) und die Schlenderer:innen. Nicht wenige mischen diese Kunstformen in ihrem Alltag je nach aktueller Situation oder persönlicher Verfassung flexibel. Die meisten unter uns aber haben eine der drei genannten Fortbewegungsarten als die zu ihnen gehörende identifiziert, da sie sie entweder unmöglich verändern können (vererbt ist vererbt) oder sie, selbst wenn es praktisch und logisch wäre, aus einem ihnen nicht näher bekannten Grund nicht verändern wollen (sagen wir es mal so: sie befolgen gehorsamst ihren Seelenplan).
Mit den Sprinter:innen haben wir uns in der Einleitung ja schon befasst. Was sie zuverlässig zu spät aus dem Haus treibt, ist schwer zu sagen? Von der leider vorhandenen Snooze-Endgegnerfunktion des eigenen Weckers, über die Sprunghaftigkeit von Vorhaben und Gedanken («Shit, ig sött doch no schnäu d Hamschter füettere u d Müeslibox verruume u mis Handyladekabu sueche, u… u… u…!»), bis zum Eingeständnis sich selbst gegenüber, dass man sich einen Tag ohne Challenge nur schwer vorstellen kann (weshalb also diese nicht als erste offizielle Amtshandlung am Morgen gleich abhäkeln, hä?), ist alles möglich. In der Regel sind Sprinter:innen fitte Zeitgenoss:innen und der Haltung «chli Risiko mues sii» (circa 2 von 100 Versuchen misslingen, so what) nicht abgeneigt. Beim Einsteigen in den Zug erkennt man sie daran, dass sie eben gerade nicht einsteigen, sondern, ausgestattet mit einem seligen «Well-hell-yes-I-did-it-again»-Blick, einer Schwalbe gleich, mit 90 Grad Twist reinsegeln und sich die Türen unmittelbar hinter ihnen schliessen wie ein Vorhang nach einer Vorstellung. Stimmts oder hani rächt?
Kommen wir zu den Sekündeler:innen. Zu ihnen gehören definitiv mein Teenagersohn und der etwas ältere Nachbarsgiu. Zwei Basketballfreaks, die ihre schlaksigen Körperteile gerne in ruhigen und kontrollierten Riesenschritten sowie mit ordentlich Vibe auf den Mikey-Mouse-Ohren vorwärtsbewegen. Ihr Gang zum Bahnhof ist, man kann es nicht anders bezeichnen, ein Husarenstück militärisch-präzisen Timings. Überqueren sie die Bahnschienen (Perimeter: zwei Meter vor, bis zwei Meter nach den Gleisen), beginnt die Signalanlage rot zu blinken, die Bimmellaute setzen ein und die Schranken senken sich. Es reicht den beiden Herren dann tout juste, noch die restlichen 150 Meter bis zum Perron zu gleiten und dort lässig einige Kollegenpfötchen zu schütteln, währenddem der Zug einfährt. Das alles hat, save, einen grossen Coolnessfaktor. Darum: well done, Jungs…bemerkt ja niemand, wenn ihr ausser Sichtweite notfallmässig mal für 80 Meter einen Vollsprint einlegen müsst. Tipp für all diejenigen, die mit einem eher schwachen Nervengeflecht ausgestattet sind: bitte nicht nachahmen!
Bleiben noch die Schlenderer:innen a.k.a. (also known as) Trödler:innen. Im Vergleich zu den Sprinter:innen fehlt ihnen der aktivierende Jagdtrieb, im Vergleich zu den Sekündeler:innen die knüppelharte Selbstdisziplin. So sind sie, wie sie sind und machen sich gerne blumige Gedanken wie zum beispielsweise: «Chunnt de scho irgendwie guet» oder Ähnliches. Sie erheben sich zu Hause erst vom Sofa, wenn das biblische Motto: «Auf, auf, ihr Hirten» sie wie die Muse küsst und schlendern dann, egal wie spät sie schon dran sind, verträumt Richtung Bahnhof. Dort sehen sie zwar, «ou neeeiii», dass die Schranke schon unten ist und sie bemühen sich sogar redlich, ihren Rückstand mittels eingelegtem Stop-and-go-Modus (also 50 Meter joggen, 50 Meter schleichen) aufzuholen. Aber es ist schwer. Die Motivation, der Körper, die Bagage (als mustergültig gelten zwei grosse Handtaschen in zwei Ellenbeugen), die machen leider alle drei nicht sooo gut mit. Aber, so wie sich die Erde eben doch um sich selbst dreht, erreichen auch die Schlenderer:innen mithilfe höherer Mächte regelmässig noch ihren erwünschten Zug. Entweder erbarmt sich ihrer ein toleranter BLS-Lokführer, der im Rückspiegel die verzweifelt nach Hilfe rudernde Hände der Schleichis bemerkt oder eine liebe Seele (und es gibt immer eine letzte liebe Seele!) auf dem Bahnsteig blockiert mit einem Fuss die Türen, bis die Schlenderer:innen, die auf den letzten Metern gekonnt schon wieder Tempo rausnehmen, eingetrudelt sind.
Man kann es aber auch so machen wie mein Vater, wenn er im November jeweils auf die Philippinen verreist. Seit er in der Kategorie Ü80 am Start ist, wählt er für den Weg an den Flughafen Zürich ganz einfach eine Zugverbindung, die ihn mehrere Stunden vor dem Abflug ans Ziel bringt. Heisst: Selbst, wenn sein Intercity in Olten stecken bleiben würde und er auf mehrere Regionalzüge umsteigen müsste, er wäre für den zweiten Morgenkaffee immer noch früh genug in Kloten. Er gehört damit zu der Spezies, die nicht mehr – auch nicht im Ansatz – auf den Zug rennen muss, kann, geschweige denn will.
Man nennt sie: die Weisen.