Alberts Traum

  • Post published:24. Oktober 2025

«Na komm schon, Albert, blas sie aus», sagte Maja mit Tränen in den Augen zärtlich und Albert tat wie ihm geheissen. Vor, neben und hinter ihm standen nebst seiner Frau seine vier Kinder, deren Lebenspartner:innen sowie seine sieben Enkelkinder und hatten alle artig gewartet, bis er aus seiner kurzen Lethargie erwacht war, endlich Atem geholt und die 65 Kerzen auf dem mehrlagigen Geburtstagskuchen ausgepustet hatte. Für jemanden wie ihn war dieser kleine Filmriss etwas äusserst Seltsames gewesen, dass dem so war, sah er auch den leicht verwundert-besorgten Blicken seiner «Happy Birthday» singenden Kinder an. Aber was sollte er ihnen schon sagen, wie es dazu hatte kommen können? Sie hätten es sowieso nicht verstanden. Sie wussten zwar, dass er, ansonsten die Ruhe und Besonnenheit in Person, auch andere Seiten hatte. Er selbst jedoch hielt diese, etwas verkopft, wie er mittlerweile war, eher für Verhaltensweisen, die er in seinen Jugendjahren zur Genüge ausgelebt hatte. Sie waren auch der Grund gewesen, weshalb es früher zuhause in Zweisimmen des Öfteren geheissen hatte, der «Aubärt», der habe einfach zu viele Flausen im Kopf, was seine Geschwister wiederum dazu animiert hatte, ihm den nicht besonders geistreichen Übernamen «AA – Alberner Albi» zu verleihen.

Geschätzt wurde er mit seinem damaligen grossen Maul, seinem Donnerlachen und seinem ausgeprägten alpinen Sportsgeist aber dennoch. Und zwar vor allem von ihr, einer gewissen Vera. Diese war ein Gspändli von ihm im Latein-Gymi in Interlaken gewesen. Im Kopf hell wie eine Leuchtrakete, ein schnelldenkender Freigeist sondergleichen, der sich nicht im Geringsten um die Meinung anderer scherte. Von ihr hatte er in der Nacht zuvor geträumt und dieser Traum hatte ihn, inklusive der Frage, wie es Vera wohl gerade jetzt ginge, den ganzen Tag nicht mehr losgelassen. Auch beim Kerzenausblasen nicht.

Albert Morgenthaler und Vera Holenstein hatte bis zu ihrem sechsundzwanzigsten Lebensjahr eine innige Freundschaft verbunden. Entstanden war diese, wie bereits erwähnt, im Gymnasium. Ein Zufall hatte sie gleich am ersten Tag an ein Zweierpult gespült und sie waren in den folgenden Jahren aus dem Gegenseitig-sich-Fragen-stellen quasi nicht mehr herausgekommen. Nicht nur auf Sekundarstufe II, sondern auch später hatten seine Kollegen und Freunde immer wieder bei ihm nachgebohrt, ob zwischen ihm und Vera denn wirklich nichts laufe? Das sei doch schon fast ein Witz! Worauf er jeweils stolz geantwortet hatte: «Nein, wieso sollte denn da etwas sein? Das ist einfach meine beste Freundin, oder, wenn du damit besser klarkommst, nenn sie von mir aus meinen besten Kumpel.» Womit das Thema schnell abgehakt war. Dies hatte nicht zuletzt auch mit Veras etwas verschrobener Art zu tun, trank sie doch gerne mal ein Bier über den Durst hinaus, rauchte selbstgedrehte Zigaretten Kette, nahm es mit jedem Typen im Armdrücken auf oder zog mit bissig-zynischem Humor über jeden Lehrer her, der ihr nicht passte, was ihr alles tatsächlich etwas Kumpelhaftes verlieh. Er selbst war immer glücklich darüber gewesen, in einer Frau seine beste Freundin gefunden zu haben. Er schloss nicht aus, dass dies überhaupt erst möglich geworden war, weil er sich in seinem Elternhaus gleich mit vier älteren Schwestern hatte herumschlagen müssen. Obwohl Albert auf Nachfrage zugeben musste, dass er Vera mit ihren hüftlangen kastanienbraunen Haaren und den eisblauen Augen sowie ihrem vom Sportklettern getrimmten Körper als äusserst hübsch und attraktiv empfand, hätte er sie nie und nimmer als mögliche Partnerin in Betracht gezogen. War sie ihm zu forsch gewesen? Eine Spur zu laut und abgedreht vielleicht? Er musste und wollte auf diese Frage schlussendlich aber nie eine Antwort finden, denn die Frage als solche stellte sich für ihn ja gar nicht erst. Natürlich hatten sie sich gerne geneckt und waren hin und wieder auch in so etwas wie einen Flirtmodus hineingeraten. Dies aber vielmehr, um sich gegenseitig zu versichern, dass man den anderen als interessante Persönlichkeit wahrnahm. Ähnlich interpretierten sie ihre sich rundum gut anfühlenden Hallo-und-Tschüss-Umarmungen, die länger dauerten, als mit den anderen Kolleginnen und Kollegen. Für sie war das nicht ein Zeichen körperlicher Anziehungskraft, sondern mehr ein Beweis für ihre spezielle Verbindung, so als wollten sie sich bei jeder dieser Berührungen still vergegenwärtigen: «Ich sehe dich.»

Dieses Vertrautsein hatte viel möglich gemacht. Während ihrer Zeit an der Uni waren sie mit Sack und Pack gemeinsam durch die Alpen, die Pyrenäen und die Dolomiten gekraxelt sowie den Kungsleden in Schweden runtergehikt, hatten dabei wild campiert und waren in Flüssen und Bergseen nackt schwimmen gegangen. Zuhause in Bern lebten sie ein klassisches Studidasein. Wenn sie nicht lernen oder für ihren finanziellen Beitrag ans Studium in einem dieser gängigen Verbraucherjobs im Service, an der Kinokasse oder im Kurierwesen am Arbeiten waren, gingen sie bei der Schwarzwasserbrücke Felsenklettern, besuchten Jazzkonzerte, gingen sich französische Filme angucken oder hingen stundenlang schwatzend in Kaffeebuden rum. Jeder genoss dabei aber ausgeprägt seine Freiheiten, denn ihre Freundschaft war so selbstverständlich, dass sie sich keinem Wann-sehen-wir-uns-wieder-Rhythmus verpflichtet fühlten. Konnte man sich aber aufgrund eines gerade laufenden Techtelmechtels, einer Reise oder eines Praktikums wegen oder auch, weil man lediglich ein bisschen alleine Zeit verbringen wollte, länger nicht telefonisch verständigen oder sich auf ein Feierabendbier treffen, begann ganz von alleine ein schriftlicher Austausch. So schickten sie sich lange Briefe oder fetzige Karten mit Kalauertexten wie etwa: «Architektur und Bier ganz ok hier. Sonst aber alles Arschlöcher, also wo steckst du?» Kurz: Man teilte offenherzig sein Leben miteinander, analysierte akribisch einschneidende Erlebnisse, fühlte sich auch mal dazu bemüssigt, sich in einer der zwei WG-Küchen mit einem Daumen nach oben oder unten spontan mitzuteilen, was man von der aktuellen Begleitung des jeweilig anderen jetzt hielt. Es war alles so unkompliziert und unverkrampft gewesen und Albert hätte sich nicht einmal im Ansatz vorstellen können, dass dies je in seinem Leben anders sein würde.

Bis zu diesem einen lauen Sommerabend, als zwischen ihnen zu viel Alkohol ins Spiel kam. Sie hatten ihre zwei Monate zurückliegenden Studiumsabschlüsse nachgefeiert und waren mit Veras jüngster Errungenschaft, einem schrottreifen dunkelblauen Renault 4 an den Thunersee gefahren. Nach einem Schwimmwettkampf bis zu einer die Badezone kennzeichnenden Boje und zurück hatten Sie im Bonstettenpark ein an einer Tankstelle gekauftes Bier getrunken und ausgiebig UNO gespielt. Wie immer begann sich Vera dabei, je länger die Partie dauerte, über Alberts Spielweise zu ärgern. Seine «psychologische Kriegsführung», die sowohl die verspielte verbale Abwertung seiner Gegner:innen als auch ein an Absurdität grenzendes arrogantes Auftreten beinhaltete, sei wirklich das Hinterletzte auf Erden, geiferte sie. Und da er sich seine Siege nicht richtig verdiene, sondern mehr ergaunere, so ebenfalls Vera, müsse es in diesem Fall zu einer Schuldumkehr kommen. Er und nicht sie sei also derjenige, der für die Kosten einer grossen Portion Pommes sowie einem weiteren Bier im Restaurant Linde in der Nähe des Parks aufkommen müsse. Schon der Rückweg nach Bern übers Land war reichlich heiter verlaufen, wobei vor allem das inbrünstige Mitsingen einiger Led-Zeppelin-Evergreens wie «Whole Lotta Love» oder «Stairway to Heaven», die sie ab Best-of-Kassette hörten, ihre gute Stimmung nur noch mehr aufschaukelte. Auf dem Nordring in Bern angekommen, bemerkte Vera dann, sie sei heute aber in gnädiger Stimmung und biete Albert deshalb an, ihm zu später Stunde noch beim Einrichten seiner neuen 2-Zimmer-Single-Wohnung in der Lorraine zur Hand zu gehen. Er habe bekanntlicherweise so einen abgrundtief schlechten Geschmack, dass nur ihre Aura ihm aus diesem Elend raushelfen könne.

Was nach dem Öffnen der zweiten Flasche Rotwein folgte, würde man im Kino wohl einen «Klassiker» nennen: Vera hatte in seinem Wohnzimmer ein Replika von Salvadore Dali an die Wand gehalten, damit Albert es mit zwei Nägeln befestigen konnte, was ihm aber – beschickert wie er nun war – trotz mehreren Versuchen nicht gelingen wollte. Die wiederholt runterfallenden Nägel hatten sie mit «Hoppala», «Was aber auch» oder «schon wieder so ein Dödelirium» zu kommentieren und sich soeben dermassen in ein Lachflash reinzusteigern begonnen, als Vera urplötzlich todernst geworden war und ihn streng angesehen hatte. Dann hatte sie ihm den Hammer aus der Hand genommen und diesen sowie das Bild sanft aufs Sofa gelegt, hatte «Scheisse, was solls» geflüstert, seinen Kopf in ihre beiden Hände genommen und ihn stürmisch-leidenschaftlich zu küssen begonnen. Klar, war dann am nächsten Morgen von der berauschenden Stimmung nicht mehr viel übrig gewesen, wobei für beide der heftige Kater das kleinere Übel darstellte. Peinlich berührt, entschuldigten sie sich beieinander für diesen Ausrutscher. Nur, wie weiter jetzt? Da kam Albert die viertägige Pflichtweiterbildung seines neuen Arbeitgebers, die am kommenden Montag in Frauenfeld beginnen würde, ganz recht. Er würde sich bei Vera melden, wenn er wieder zurück sei und man könne dann doch noch einmal über das Passierte reden, einverstanden? Ohne klare Antwort und ohne Umarmung waren sie auseinander gegangen und aus Alberts versprochener Kontaktaufnahme war wegen seiner abgrundtiefsitzenden Scham nie mehr etwas geworden. Auch von Veras Seite her kam nach diesem verhängnisvollen Sommerabend nie mehr ein Lebenszeichen. Sie hatten sich die Finger verbrannt und das ordentlich. Von einem Moment auf den anderen hatte sich der Vorhang zu ihrer Freundschaft geschlossen, ein Endpunkt war erreicht.

Sechs Wochen später hatte Albert an einem Spieleabend bei einem ehemaligen Studikollegen dessen Schwester Maja kennen gelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Und bei dieser Maja war er dann auch geblieben und bereute es bis heute keine Sekunde. Sie war eine Kunsttherapeutin in Ausbildung und ihm schien ihr flirrend-buntes Wesen eine wunderschöne Ergänzung zu seinen manchmal etwas trockenen Anwandlungen, die er als akribisch arbeitender Historiker am Entwickeln war. Während er sich nebst seiner kopflastigen Arbeit gerne im Aussen auf Reisen und beim Ausdauersport oder in den Bergen beim Tourenskifahren ausgelebt hatte, hatte Maja sich schon früh privat und persönlich brennend für die Innenwelt der Menschen zu interessieren begonnen. Mit dem Besuchen von Kleinkunstveranstaltungen hatten sie in ihrer Freizeit dann etwas gefunden, was sie beide gleichermassen begeisterte und was sie bis bis zum heutigen Tag intensiv verband. Albert sagte deshalb spasseshalber manchmal, sie seien eben zusammen ein guter Mix, was Maja wiederum zur Weissglut brachte, da sie sich trotz der sonst achtsam geführten Paarbeziehung, als Persönlichkeit überhaupt nicht gerne über ein «wir» definierte. Sie sagte dann jeweils erbost Dinge wie: «Ich bin doch nicht irgend so ein hübscher 50%-Anteil eines gemischten Salats mit Balsamico-Dressing, Albert, also wirklich jetzt.» Er liebte sie wirklich von ganzem Herzen. Ihre höfliche Direktheit, ihre präzisen Aus- und Ansagen, ihre ungebremste Neugierde zu allem, was aus dem Bereich der bildenden Künste kam, ihr untrügliches Gespür für die Wohnung aufhübschende Sächelis, ihr schelmisches Gekicher, wenn sie mit den Grosskindern Unfug trieb aber vor allem und nicht zuletzt, dass sie für ihre eigenen Kinder eine grossartig-einfühlsame und präsente Mutter gewesen war: All das fand er an Maja absolut grossartig. Die genialen, high-artigen Freundschaftsgefühle aber, die er mit Vera in Verbindung brachte, diese teilte er mit Maja nicht und hatte sie nach diesem Sommer 1986 auch mit sonst niemand anderem mehr erlebt. Er vermisste das.

In der Nacht nun vor seinem 65. Geburtstag hatte er jetzt aber von Vera und von sich selbst geträumt. Und zwar, wie er und sie in rund zehn Jahren gemeinsam im Tirol Ferien machten. Wobei sie das taten, was sie auch im jungen Erwachsenenalter getan hatten. Einfach langsamer. Sie radelten mit dem Elektro-Fahrrad zum Kaffee trinken, lasen nebeneinandersitzend dicke Bücher, wanderten mit einem Znüni ausgerüstet auf die Waidringer Steinplatte, erzählten sich ihre Lieblingslebensgeschichten oder schwiegen einfach.

Wenn jemand fragte: «Warum tut ihr das denn gerade jetzt, ihr alten Knacker und was halten eure Partnerinnen und Partner denn davon?» antworteten sie lässig: «Warum sollten wir das bitteschön denn nicht tun? Als alte Knacker doch erst recht!» sowie «Schon mal was von leben und leben lassen gehört? Macht Beziehungen langlebig und glücklich, weil man sich zuhause dann etwas Neues zu erzählen hat.» Die Abende beendeten sie jeweils an der Hotelbar mit einem kleinen Absacker und wünschten sich danach mittels inniger Umarmung eine gute Nacht. Wohlverstanden in getrennten Betten und getrennten Zimmern.

Der Traum war beängstigend real gewesen und fast vollständig, also spielte sich im Zeitraum von einer An- bis zu einer Rückreise ab. Es hatte sich so entspannt angefühlt, in einer freundschaftlichen Beziehung nichts zu müssen aber fast alles zu dürfen. Er war mit voller Freude und erholt wie nach einem richtigen Urlaub erwacht und musste postwendend an das Sprichwort: «Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben» denken. Dieses wandelte er aber mit den Worten «Es ist nie zu spät, eine Freundschaft, Freundschaft sein zu lassen» so ab, dass es zu seiner Situation passte. Er stand auf, schrieb diesen einen Satz sowie ein «LG, good old Albi» auf eine der Hunderten von Kunstkarten, die seine Frau über die vergangenen Jahre in einer Box gesammelt hatte und schickte sie am nächsten Tag an die Adresse ab, die er online gefunden hatte. Ohne Hintergedanken, ohne die geringste Erwartung an eine Erwiderung, lediglich als Statement.

Drei Tage später fand er in seinem Briefkasten eine selbstgebastelte Karte mit Donald Trump sowie einem Steinadler, der über dessen Kopf flog und genüsslich auf diesen herabzuscheissen schien, vor. Auf der Rückseite der Karte standen nur drei Worte:

«Deal, Albi. Deal!»