Marlen ist Marlen ist Marlen

  • Post published:24. Oktober 2025

Man mag sie oder man mag sie nicht, Marlen Reusser, die Schweizer Profiradrennfahrerin aus Hindelbank. Wobei, da gibt es noch so etwas wie ein drittes Lager, zu welchem ich mich zugehörig fühle. Das sind diejenigen, die sie in einem Moment total mögen, nur um sie im nächsten überhaupt nicht zu mögen: Ritsch, Rätsch. Hin und her. Und zwar schnell. Es ist kompliziert. Heute nun, will ich versuchen, mir selbst diesen ambivalenten Zustand zu erklären und auch gleich zu definieren, wie ich damit in Zukunft umgehen möchte. Dabei ist mir total bewusst, dass ich mir die Freiheit rausnehme, über eine öffentliche Person, ein Urteil zu fällen, die ich persönlich aber gar nicht kenne und dass das eigentlich ganz schön doof ist. Also: ich bin doof aber ich tue es um meinetwillen trotzdem.

First things first, Stadium «Bewunderung Nr. 1»: Ich verfolge als Zeitungsleser und ehemaliger Tourenveloliebhaber die Sportlerinnenkarriere von Marlen Reusser, seit sie auf dem Radrennfahrerinnenparkett erschienen ist. Dass sie auf dem Karbonesel viel aus sich herauszukitzeln vermag, das wurde schnell einmal allen klar, dafür musste man weder Hellseher sein, noch sich mit dem Radsport mega auskennen. Ihre Spezialität ist (wobei sie viel vielseitiger geworden ist – Stichwort Eintagesrennen oder Rundfahrten) das Zeitfahren. Es sind auch die Wettkämpfe gegen die Uhr, die mich für sie als Sportlerin besonders einnehmen, denn was sie dort zeigt, ist allererste Sahne. Diesen Sommer kürt sie sich – endlich, ist man geneigt zu sagen (für sich selbst und ihre Fans) – in Kigali, Ruanda, hochverdient zur Weltmeisterin in dieser Disziplin. Und wie sie das tut! Auf dem insgesamt 31 Kilometer langen Rundkurs fährt sie ihre Konkurrentinnen in staubigen Grund und Boden. Der Zweiten nimmt sie nicht weniger als 51 Sekunden ab. Das sind Welten. Es ist eine geradezu magische Fahrt. Nach dem Rennen, das ich – stehend vor lauter Anspannung – an meinem Handybildschirm und «Go, go, go, hol dir diesen fucking goldenen Plämpel» rufend, verfolgt hatte, bin ich zwar heiser aber auch total geflasht. Diese Performance – also dieser Hunger, diese Lust am Leiden und diese wahnsinnige rohe Energie, die diese Frau in eleganten Speed umzuwandeln vermag – meine Fresse, das soll ihr erst einmal jemand nachmachen. Wie sie es geschafft hat, Kopf und Kragen zu riskieren ohne wirklich Kopf und Kragen zu riskieren, das wird wohl ihr gut gehütetes Geheimnis bleiben. Bei der Medaillenübergabe weine ich gerührt, weil ich weiss, wie sehr sie sich diese Auszeichnung nach einem Seuchenjahr – dazu später mehr – verdient hat (ich weine übrigens öfters bei Verneigungszeremonien bei Sport- oder Kulturveranstaltungen, weil mir dabei jeweils bewusst wird, wie viel Herzblut in den Projekten steckt, wie viel Energie es kostet, so weit zu kommen, aber auch wie viel Freude jemand mit seiner Leistung anderen Menschen machen will und auch kann). Sie war ready. Sie lieferte ab. Sie lebte ihren Traum. Und: Sie redete darüber.

Sprudelnd wie ein Wasserfall. Und hier scheiden sich die Geister zwischen einem Stadium «Bewunderung Nr. 2» oder einem Stadium mit dem unhübschen Titel: «Geht gar nicht», denn Marlen Reusser redet so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Ungefiltert und direkt. Ultradirekt. Über den Radsport natürlich. Aber auch über sich, über ihre Emotionen und Gefühle.  Und manchmal würde ich ihr in dem Moment liebend gerne nur diesen einen Satz sagen, der da wäre: «Also so genau wollte ich es jetzt auch wieder nicht wissen.» Dass ich so empfinde, liegt einerseits an meinem durch meine Erkrankung runtergerockten Nervensystem, das weniger gut austarierte Emotionen, vor allem solche am oberen oder unteren Ende der Intensitätsskala, nur äusserst schwer verdauen kann. Andererseits liegt es aber auch daran, dass ich als bisweilen äusserst reservierter Schweizer, der ich bin, mit ihrer radikalen Offenheit nicht klarkomme. Zudem wünschte ich mir auf der Kommunikationsklaviatur bisweilen ein paar leise Töne mehr. Für mich ist das so.

In den Kommentarspalten – dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Endgegner unserer Zeit – einer Onlinezeitung habe ich auch schon Bemerkungen gefunden, die mich in meiner Wahrnehmung ansatzweise bestätigen könnten. Nur sind diese häufig in einer so despektierlichen Sprache abgefasst und zielen so sehr auf die Frau als Person, dass es mich bis zum Anschlag graust und ich mir ernsthaft Sorgen mache zum mentalen Zustand unserer Gesellschaft. Beispiel gefällig? Als Marlen Reusser vor zwei Jahren, mitten in einem WM-Zeitfahren, mental total erschöpft, aufgibt und am Strassenrand in Tränen ausbricht, hiess es etwa, ohne den Wortlaut eins zu eins wiedergeben zu können, das sei jetzt wieder einmal «typisch Marlen» (als Onlineork dutzt man eh jede und jeden): Entweder himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt. «Die» kenne nichts dazwischen. Es sei ein Drama ohne Ende. Auf Platz vier liegend gebe «man» doch nicht einfach auf, da zeige «man» doch Sportsgeist, damit «man» später erhobenen Hauptes sagen könne, «man» habe es zumindest versucht, aber jetzt habe es halt lediglich zu Leder gereicht. Merken Sie, woher der Wind weht? Authentisch sein, heisst in diesem Fall: «Beiss gefälligst auf die Zähne und mach gute Miene zum bösen Spiel, Bitch» Nein, im Fall, voll nicht. Nachdem ich, ich will an dieser Stelle ehrlich sein, im ersten Moment mit einem leichten Seufzen dachte: «Oje, oje», dachte ich im unmittelbar nachfolgenden: «Shit, verflucht und zugenäht, so sieht es also aus, wenn bei einem Musterprofi total Chübeli um ist.» Permanent mit eigenen und fremden hohen Erwartungen konfrontiert zu sein, der Druck, auf Punkt X performen zu müssen, als Repräsentantin der Schweiz chronisch in einem medialen Schaufenster zu stehen, das muss eine riesige Herausforderung darstellen. Nein, es war nicht angenehm, Marlen Reusser bei ihrem vermeintlichen Scheitern zuzusehen, das stimmt. Nur weil «man» aber damit nicht umgehen kann, heisst das doch noch lange nicht, dass «man» dazu berechtigt ist, die Rennfahrerin online eine «Heulsuse» zu nennen, denn sie zeigte sich uns in diesem Moment als sensibler und verletzlicher Mensch. Sie ist damit keine von diesen abgebrühten Sportlerinnen- oder Sportlermaschinen, die vor den Kameras aus Selbstschutz oder aus welchen Gründen auch immer, nichts, aber auch wirklich gar nichts von sich preisgeben. Wer es, durch Kommunikationsprofis zurechtgeschliffen, medial etwas glatter mag, der darf sich von mir aus jedes Wochenende die putzlangweiligen Interviews mit Fussballern zu Gemüte führen, die am Spielfeldrand brav Standardsätze ins Mikrofon sülzen, wie: «Ich bin froh, dass ich mit meiner Leistung der Mannschaft helfen konnte.» Würg. Heisst im Umkehrschluss auch: Marlen Reusser ist weit weg vom Leben einer Peoplepleaserin, die es allen möglichst recht machen will. Sie verbiegt sich nicht. Das hat den Vorteil, dass wenn sie nach einem Rennen zu einer Konkurrentin hingeht und sich einfühlsam nach deren Befinden erkundigt oder mit einer Kollegin feierlich die Teamleistung abklatscht, ich ihr das als vollkommen authentische Handlung abnehme. Da ist keine Fassade, sie ist halt einfach nahe dran an ihren Emotionen und teilt diese. Ob das jetzt für mich «too much information» bedeutet oder nicht, es ist auf alle Fälle ganz schön mutig von ihr.

Ebenfalls mutig war und ist, wie offen sie mit ihrer Long-Covid-Erkrankung umgegangen ist. Im Gegensatz zu mir, der sich, um sich wenigstens ein Stück weit ein Gefühl von «Normalität» zu wahren, oft hinter einer (vermeintlich tapferen) Geht-schon-irgendwie-Maske versteckt, machte sie ihre Erkrankung in einer Fernsehdokumentation öffentlich. Sie sieht darin nicht gut aus und wird so, notabene als ausgebildete Ärztin, zumindest für eine kurze Zeit, zum Gesicht einer labortechnisch nur sehr schwer nachzuweisenden Erkrankung. Indem sie vollständig in Remission geht, gibt sie nachfolgend all den Betroffenen Kraft, nicht aufzugeben. Heilung ist möglich. Obwohl sie im Film explizit sagt, dass jeder ME/CFS-Fall individuell sei und so auch die Behandlungsansätze individuell erfolgen müssten, bemerkt man ihr Feuer für den Weg, den sie selbst gewählt hat (der Erfolg gibt ihr ja recht). Deshalb werfe ich ihr an dieser Stelle ein klitzekleinwenig vor, dass sie der Erkrankung, ohne bösen Willen, ihren Komplexitätsgrad abspricht – nicht jede und jeder, der sich den Arsch abmeditiert (glauben Sie mir, ich war dort), sich also mit Alpha-Wellen segnet und sein Hirn neu verdratet, wird automatisch auch gesund. Es gibt Menschen mit schleichenden Verläufen und vor allem mit Verläufen, die viel multifaktoriellere Ursachen haben, als eine «reine» Virusinfektion. Das Ganze ist jetzt aber ebenfalls eine wahnsinnig verkürzte Darstellung, die weder der Erkrankung ME/CFS noch der Person Marlen Reusser ansatzweise gerecht wird.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich verspüre null Neid, wenn ich sie, gesund und im Saft wie sie ist, im TV sehe. Null. So war ich nie. Nein, ich verspüre Mitfreude und es gibt mir ganz im Gegenteil Hoffnung, wenn es jemand aus diesem niederschmetternden Zustand rausgeschafft hat, dass jemand wieder leuchten darf, dass jemand, wie sie es selbst in Teil zwei der Doku so schön sagt, mit allen fünf Sinnen an diesem Geschenk namens Leben teilnehmen darf.

In eben diesem Teil kann man Marlen Reusser übrigens auch beim Techniktraining (sie wurde erst mit 27 Jahren Rennradprofi und hat diesbezüglich Nachholbedarf) mit dem Schweizer Nationaltrainer zusehen und wie sie sich dabei herzlich über sich selbst und ihre falschen fahrerischen Automatismen lustig macht. Das ist dermassen erfrischend ehrlich, dass ich mich entscheide, sie fortan nur noch zu mögen, denn es ist mir klar geworden, dass Marlen Reusser, ob jetzt vor oder hinter der Kamera, nichts anderes tut als Marlen sein. Marlen ist Marlen ist Marlen.

Chapeau.