Der Tag geht gut los, die Sonne ist soeben aufgegangen, herzige Nebelchen hängen träge in den Emmentaler Hügeln, der Zug ist, bedingt durch die Herbstferien, am früheren Morgen weniger als zur Hälfte gefüllt und ich komme aus einer Nacht, die erstaunlich ruhig gewesen ist – sonst wäre ich auch gar nicht erst losgezogen. Beim Umsteigen in Konolfingen sehe ich im Bahnschotter ein robustes Pflänzchen, das mich mit seinen kecken violetten Blüten fröhlich macht. Ein herziges, ganz altes Pärchen, beide sichtbar nicht mehr gut zu Fuss, wackelt Hand in Hand an mir vorbei und rätselt dabei lautstark vor sich hin, in welchem Perronabschnitt sie wohl am besten in den Regioexpress einsteigen sollen, damit dann die Gehdistanz am Hauptbahnhof in Bern möglichst kurz bleibt. Ich setze mich in ein Viererabteil zu einer Mutter und deren Teenagertochter hinzu, die beide bis zur Ankunft in der Stadt nur einmal kurz von ihren Handys aufgucken, um sich gegenseitig zu bestätigen, dass bald ein Termin bei der Berufsberatung ansteht. Unmittelbar beim Ausgang haben sich zwei junge Mütter mit ihren fünf kleinen Kindern breitgemacht und stimmen sich nun lautstark auf die längere vor ihnen liegende Zugfahrt und den anschliessenden Zoobesuch ein. Dabei werden die Kids richtiggehend mit Fragen gelöchert: «Hesch no es Weggli wöue? Hesch würklech no gnue? Es het de no Weggli! Mir si nämlech äxtra no meh Weggli ga chouffe, gäu! Superfeini Weggli, oder? Nando, teilsch du nid o no dis Schoggistängeli? Du hesch doch gseit, dass du das de mit dr Nora wirsch teile. Aber lueg doch, sie het o Luscht ufenes Stückli Schoggistängeli. We mä verspricht, dass me es Schoggistängeli teilt, de teilt me das nächäne ou, oder nid?» Der Kleine antwortet: «Nei, ig cha nid, das steckt i mim Weggli fescht, gsehsch ja.» Diskussion? Beendet. Folgen? Keine. Aber Hauptsache man hat darüber geredet. Es geht weiter mit: «U du Hannah, was wosch du hüt für Tier gseh? Gäu, grossi Schiudkröt hesch geschter gseit, grossi Schiudkröt, oder? Und natürlech ds Hippo. Weisch no wie ds Hippo uf Italiänisch heisst. Ds Hippo het doch so ne luschtige Name uf Italiänisch, gäu? Ippopotemo! Chasch das säge? Chasch nid? Woschs nid mau probiere?» Danach folgt eine Anfrage an den etwas älteren Ilias, ob er nicht etwa Clara das Schuhe binden beibringen möchte, denn diese Clara, müsse der Ilias wissen, die sei feinmotorisch bereits ziemlich ausgefuchst, also sie sei es noch nicht so lange, erst etwa einen Monat, aber in diesem Monat sei die Clara mit der Feinmotorik einfach superweit gekommen. Überhaupt wird rumplagiert damit, was der Nando, die Nora, die Hannah, der Ilias und die Clara jetzt nicht alles spitzenmässig könnten, machten, sagten, sowieso und überhaupt. Es scheint mir, als müsse es sich bei der Kinderschar um einen veritablen Verbund von kleinen Superheld:innen handeln. Ich verstehe ja, dass sich Eltern für ihre Würmchen ins Zeug legen, ihnen etwas zeigen, sie wachsen lassen, sie interessiert begleiten möchten. Aber diese beiden Mütter tönen eher wie diese spezielle Sorte von Grosseltern, die exzessives Überengagement rund um ihre Enkelinnen und Enkel mit astreiner Liebe verwechseln und die Kleinen für die ultimative Krone der Schöpfung halten. Meinem Vergnügen über den Hauch von Reisefeeling, den ich seit dem Aufbruch aus Höchi verspüre, tut dies allerdings keinen Abbruch. Es gilt mehr, dass ich mich heute ausserhalb meines gewohnten Perimeters im goldenen Dreieck Grosshöchstetten – Bern – Ittigen (Adresse meines Hausarztes) bewegen werde und das bewusst zu geniessen versuche. Dazu gehören auch die Einsicht sowie das Annehmen davon, wie viel sich in meinem Leben durch meine Erkrankung verändert hat, ist doch von dem, was mich einmal ausgemacht hat, wozu ich eben auch das leidenschaftliche und oftmalige Unterwegssein alleine oder mit Freundinnen und Freunden zählen würde, nicht mehr viel übrig. Man kann dem auch, ganz ohne jammerigen Unterton, Identitätsverlust sagen.
In Bern gerate ich in die Schlussphase der Rushhour. Ich schiele deshalb in der Bahnhofunterführung grossmehrheitlich zur «ruhigen» Decke hoch und nehme dankbar zur Kenntnis, dass man mir, dem vermeintlich Verträumten oder Abwesenden, sanft ausweicht. Ein Grossteil der auf den Zug Hastenden ist ausgerüstet mit einem To-Go-Kaffeebecher, den sie vor sich herstrecken wie irgendeine wertvolle Trophäe. Auf Gleis 13D-F wartet meine Verbindung Richtung Murten und ist mit dem schönen deutschen Satz: «Zug mit zwei unterschiedlichen Wegzielen» versehen. Erklär das mal in Kürze einem verzweifelt-gestressten indischen Touristen? «What the…?» Ich suche unmittelbar nach der Abfahrt die Toilette auf und erschrecke im Spiegel über mein eigenes, eingefallenes Gesicht. Auf Höhe Stöckacker verfolge ich interessiert den Bau eines neuen Wohnquartiers und frage mich, wie jemand auf die Idee kommen kann, in unmittelbarer Nähe zur Autobahn wohnen zu wollen? Sachen gibt’s. Danach folgt ruhig der Weg durch Waldabschnitte und Felder Richtung Westen, den ich schon von Kindsbeinen an immer als stimmiger empfunden habe, als etwa denjenigen Richtung Innerschweiz oder Berner Oberland. Wenn die Landschaft flach wird, werden wohl meine holländischen Gene angeknipst. Ich fühle mich, kaum bin ich im Seeland, tatsächlich so, als käme ich nach Hause. Fehlen dazu würden einzig einige Backsteinhäuser sowie der klassisch-chronische Nieselregen. Am Bahnhof von Kerzers werde ich mit der grossen Leuchtschrift «Zahnärzte Kerzers» empfangen und von weitem grüsst mich bereits der stolze Mont Vully. Ich erinnere mich nun an einige gelungene Velotouren, eine Geographieexkursion sowie eine – lachen Sie nicht – Töfflitour, die über diesen Prachthügel geführt hatten. In Murten gratuliere ich mir noch einmal zu dem Entscheid, diesen nicht übermässig weit von meinem Zuhause entfernten Ort heute angesteuert zu haben. Neben dem Schloss befindet sich ein kleines Pärkchen, das mir einen wunderbaren ersten Blick über den See schenkt. Da mein Energiebarometer jetzt schnell abfällt, steuere ich in der Rathausgasse das Café Kornhaus an. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, Espresso zu trinken, gönne ich mir heute die grössere Variante Kaffee Crème. Dies auch in der Hoffnung, dass die darin enthaltenen 150mg Koffein bei mir Wunder bewirken werden. Die fantastische, würzig-aromatische Brühe wird rasch serviert und ich fühle mich schon bald sehr wohl in dieser Gaststätte. Gleich nebenan sitzen vier ältere Damen bei einem Kaffeekränzchen, die ihre Konversation über Ihre Tagesausflugspläne in einer Mischung aus Freiburgerdeutsch und Französisch führen. Ungezwungen wird mitten im Satz zwischen den zwei Sprachen hin – und herchangiert, was ein unvergleichliches Gefühl von Leichtigkeit hinterlässt. Auch die speditiv arbeitende Servicefachangestellte ist légère drauf, wirft sie doch, als ein Grosselternpaar mit ihrem Enkel eintritt und sich an einen eigentlich reservierten Tisch setzt, den Pappbecher mit der Aufschrift «Hr. Pfander, 4 Personen, 09.30 Uhr» kurzerhand in einer zwirbelnden Handbewegung auf einen tiefergelegten Salontisch, dessen um ihn herum angeordnete runde Sitzgruppe soeben wieder frei geworden war. In einer Ecke sitzt eine Mutter mit ihren beiden erwachsenen Töchtern – die Gesichtszüge und die ganze Mimik sind frappant ähnlich – welche ebenfalls bereits beide Mütter sind und ihre Schätzchen auf ihren Schossen mit Sirup zu besänftigen versuchen, dessen Farbe wiederum nicht schlecht an einen giftigen Zaubertrank aus einem Gebrüder-Grimm-Märchen erinnert. Die Gruppe wird von einem Pudel begleitet, der aber nicht etwa neben den zwei Kinderwagen oder unter dem Tisch Platz genommen hat, sondern stolz neben seinem Frauchen auf der Plüschbank thront. Das sieht zwar sehr unrichtig und deplatziert aus, aber voilà, the times they are a changing. Mit einem verkauten Strohhalm im Mund studiert nun das circa zweijährige Mädchen auf den Knien der Mutter die Menukarte und sagt dann, als sie nach ihrem Essenswunsch gefragt wird – «wotsch es Gipfeli oder es Müesli?» – sie hätte jetzt Lust auf einen grünen Salat. Die ganze Frauengruppe sowie einige Gäste, die unmittelbar daneben ihre Muntermacher trinken und die unbewusst mitgelauscht hatten, lachen laut heraus. Obwohl mir ein leichter Schwindel und der verspannte Kiefer anzeigen, dass ich es mit dem schwarzen Gold übertrieben habe, verlasse ich das Restaurant in aufgeräumter Stimmung.
Langsam wie ein Faultier schlendere ich in der Folge zum Hafen hinunter. Ein bissiger Wind zieht mir um die Ohren und ich sehe mich gezwungen, meine Hoodiekappe über meine Wollmütze zu ziehen. Ursprünglich hatte ich ja einmal geplant (träumen sei erlaubt), eine Nacht in meinem Einmannzelt auf einem Zeltplatz in Muntelier gleich am Ufer des Sees zu verbringen. Nun bin ich aber froh, dass ich dieses Vorhaben nicht zwänglerisch umgesetzt habe. Wer jeden Morgen mit einem maximal mit 15% aufgeladenen Akku aufwacht, organisiert sich besser anders. Bei der Minigolfanlage stecken einige restliche neongelbe Röhren von der Expo 02 in einem Steinbeet. Schön war die Stimmung damals gewesen, aber lang, lang ist’s her. Am Seeufer schiesse ich zur Sicherung meiner Ausflugseindrücke mit dem Handy ein paar Bilder. Der Fernblick über das kleine Wellen schlagende Wasser hinweg entspannt mich nachhaltig. Ich bin unfassbar traurig und unfassbar glücklich zugleich. Während die Mehrzahl der Leute sportlich an mir vorbeiwalkt oder vorbeijoggt, sitze ich eine Dreiviertelstunde auf einer Gitterbank und versuche, mich in einen Eckhart-Tolle-Moment reinzuimaginieren. Alles ist so, wie es in diesem Augenblick ist. Radikale Akzeptanz. Ich will nicht andauernd meine Biographie aus der Vergangenheit ableiten oder mir durch einige blühenden Ideen aus einer vermeintlich rosigen Zukunft zusammenzimmern, weil beides dem Hier und Jetzt eh nicht entspricht. Ich will bloss sein. Stuwi Bolliger sein. Ohne eine verrückte Versionszahl dahinter, fertig! Was einfacher gesagt ist als getan.
Auf dem Rückweg wähle ich, bereits wieder im Städtchen drin, eine Seitengasse und werde Opfer meiner geographischen und geschichtlichen Leidenschaften. Ich nestle umständlich eine 20mg NADH-Lutschtablette aus meinem Rucksack, die mir einen kleinen Vitalitätsschub verleihen soll, und steige die Treppen zum Wehrgang auf der Ringmauer hoch. Dort geniesse ich die Aussicht über die Dächer des Städtchens und durch die Schiessscharten hindurch Richtung Bahnhof über einige Innenhöfe mit schönen, wild wuchernden Gärten. Ich fühle mich zeitlos, vermute aber, dass die Uhr etwa Mittag anzeigt. Höchste Eisenbahn also, den Rückweg anzutreten. Ich habe Pech, rauscht mir doch ein Regio Richtung Kerzers-Bern vor der Nase ab. Da es aber wunderbar sonnig ist, setzte ich mich auf eine Bahnhofsbank und sauge gierig das wunderbare Herbstlicht in mich auf.
Im Zug schicke ich einer Freundin, die mir zuverlässig aus all ihren Feriendestinationen geniale Fotobomben schickt (ich reise sehr gerne imaginär mit) einige Impressionen meines Ausflugs. Dann lehne ich den Kopf halb an die Sitzlehne und halb ans Fenster und schlafe, was ich sonst nie tue, sofort tief ein. Ich verpasse damit zwar das erhabene Gefühl beim Über-das-Saaneviadukt-fahren, aber was solls.
Kurz vor Bern stupst mich ein Fahrgast, der sich gegenüber mir niedergelassen hatte, an und fragt mich, ob ich nicht etwa aussteigen müsse? Ich bejahe, bedanke mich und steuere im Bahnhof humplig den Lidl an, da mein Kühlschrank am Vortag Ebbe angemeldet hat. Da mir verbindungstechnisch noch Zeit übrigbleibt, entledige ich mich im 5. Stock des Loebs der vollen Blase und staune einmal mehr, wie grausam eisern das Handy unser Alltagsleben mittlerweile im Griff hat. Neben mir im Pissoir steht nämlich ein Mann, der so vertieft in seine lärmenden Reels ist, dass er sein Grundbedürfnis in einer äusserst komplizierten und nicht wirklich entkrampft aussehenden Einhandaktion zur Durchführung bringt. Very strange.
Ich will jetzt nur noch nach Hause und habe rückblickend vom Zeitpunkt im Loeb, bis ich zuhause angekommen bin null Erinnerungen mehr. Ich weiss nur, dass ich mir zuhause einen grossen Krug Tee aufgegossen, mir einen Proteinriegel, einen halben Apfel sowie ein Schälchen Kürbiskerne gerichtet, mich mit Ohrenstöpseln sowie meiner Augenbinde ins Bett gelegt und von 14 bis 20 Uhr in absolute Stille und Dunkelheit eingeigelt habe. Den milden aber zu erwartbaren Crash mit mehr Schmerzen und Erschöpfung in den nächsten drei Tagen konnte ich so zwar nicht ganz abwenden. Aber ich machte ihn verhandelbar. Zudem war ich um eine schöne Lebenserfahrung reicher. Und das ist es, was zum Zeitpunkt meines Ausflugs, beim jetzigen Schreiben darüber sowie in der späteren Erinnerung zählte, zählt und zählen wird.