Komplett orientierungslos stehe ich an einem dieser unscheinbaren Minibahnhöfe irgendwo im Kanton Freiburg. Als Mensch, der sich vor langer Zeit einmal «studierter Geograph» nennen durfte, will das etwas heissen. Ich zögere, denn das Handy hervorzukramen, nur um mich für einen Weg zu entscheiden, das lässt mein sturer Schädel nicht zu. Muss er aber auch nicht, denn so wie ich, ist auch eine Frau abrupt stehen geblieben, die mich jetzt neugierig mustert. «Suechet dr öppis?», fragt sie höflich. Und ich antworte augenzwinkernd: «Ja, in der Tat, Sie haben mich beim Fremdsein ertappt. Im Ernst, es ist mir etwas peinlich, aber gibt es in der Nähe dieser BLS-Einöde so etwas wie ein Dorfzentrum?» Die Frau muss grinsen und bietet mir an, mich «mitzunehmen», sie müsse auf dem Weg in ihr Home-Office sowieso in die für mich richtige Richtung gehen. Wir kommen ins Gespräch und reden ohne Umschweife angeregt über die Vor- und Nachzüge von Wohnorten in Agglomerationsgemeinden. Wir folgen einem schmalen mit Pflastersteinen ausgelegten Pfad, der durch einen Haselstrauchhain führt und befinden uns rasch mitten in einem Quartier (wo sich die Frau und ich uns mit einem höflichen Kopfnicken verabschieden), das den Namen «Quartier» eigentlich nicht verdient. Mir war ja wegen einiger gelesener Zeitungsartikel bekannt, dass die Grundstückpreise im Freiburgischen verhältnismässig tief angesiedelt sind und man bei der Vergabe von Bauland ebenfalls nicht gerade knausert. Damit schlägt man als Wohnkanton gleich zwei Fliegen auf einen Streich, weil man plötzlich sowohl für Arbeitnehmende, die für ihren Job Richtung Freiburg streben, als auch für solche, die nach Bern pendeln müssen, attraktiv ist. Welche Früchte dieses Vorgehen allerdings trägt, sehe ich nun ebenso klar und deutlich: ein surreal-abenteuerliches Architekturchaos. Ich bin ja persönlich der festen Überzeugung, dass man das Landschaftsbild schon alleine dadurch erheblich schützen könnte, wenn man der ungezügelten Vermehrung von unterschiedlich grossen, blau glasierten Deko-Keramik-Gartenkugeln in den Gärten ein Stück weit Einhalt gebieten würde. Aber hier sind diese pilzartigen Mopse das kleinste Problem, denn hier stehen sehr verdichtete zweigeschossige Reiheneinfamilienhäuschen in Kanariengelb und mit pinken Fensterläden sowie sechseckigen Balkonen oder ockerfarbene, mit dunkelbraunen Metallgeländern verklebte Flachdachwohnblöcke neben Einfamilienhäusern, bei denen jedes einzelne unbedingt ein eigenes Thema bespielen will. Bedeutet: Eine Schotterwüste im Garten hier, eine Weintraubenpergola mit einem riesigen Thailand-Strandurlaub-Foto an der Wand zum Aufhübschen des Eingangsbereichs da und dort ein nierenförmiger Teich mit aus dem Wasser springenden Steindelphinen. Im Dorfzentrum wird’s leider nicht besser. Liebevoll renoviert steht zwar noch das ursprüngliche Gemeindehaus an der Hauptstrasse, dieses wurde aber, wohl des akuten Platzmangels wegen, mit einem Verwaltungspalast ergänzt, dessen Fassade aus Glas und hellgrauen Eternitplatten verzweifelt versucht, modern zu sein. Eine visuell überzeugende Lösung sieht anders aus. Überhaupt bellt einen dieser auf Funktionalität getrimmte Ort an gefühlt jeder Ecke seine Grunddevise ins Gesicht, die da lautet: «Was hier getan wird, muss getan werden»; nämlich geschlafen, gefickt und gefressen. Weitere Wünsche, die sich nebst den üblichen Gemeindeangeboten wie der Schule und dem Fussballklub und ausserhalb des VOLG-Post-Bäckerei-Universums befinden, möge man bitteschön anderswo befriedigen. Natürlich leuchtet mir ein, dass man es auch anders sehen könnte. Man lässt alle an ihrem Haus und in ihrem Garten das machen, was sie gerade für gut befinden. Das gibt den Anwohner:innen das Gefühl von Freiheit. Das entspannt. Solange der Steuerfluss nicht versiegt, aus den vielen Blagen, die sich auf dem Meer von Gartentrampis austoben, was Anständiges wird, die Einfahrten in dauergekärchertem Zustand glänzen und um Punkt 22 Uhr Nachtruhe herrscht: alles gut, vale la pena, Ende der Durchsage!
Mich persönlich macht das vogelwilde Ortsbild allerdings so fix und fertig, dass ich mich in den letzten verbliebenen Gasthof setzen und desillusioniert einen doppelten Espresso bestellen muss. Diesen zieht mir eine mit einem vor elektrischer Ladung knisterndem aber nicht wirklich faltenfreien Acryl-Deux-Pièce bekleidete Servicefachangestellte aus einer Kaffeemaschine, welche mit ihren aggressiv aufblitzenden Halogenlämpchen, dem Monsterdisplay und einem grellgrünen Leuchtband, das sich einmal quer durch den Apparat zieht, mehr aussieht wie ein kleines UFO. Am Stammtisch, der nicht mehr aussieht wie ein Stammtisch, sitzen vier ergraute Herren. Drei davon bestellen, es ist Viertel nach zehn, ein Ballöndli Fendant, einer zähneknirschend und «dr Arzt het gmeint» murmelnd einen Kafi Crème. Nach den ersten Schlucken hört man ein genüssliches Schmatzen, es wird laut vor sich hingeseufzt und einer der Alteingesessenen lässt die Binsenweisheit: «Das tuet eifach scho guet!» fahren. Einige Meter nebenan sitzt der junge Besitzer der Beiz mit einem Reinigungsmittel-Hausierer an einem Zweiertischchen. Letzterer ist einer von der aussterbenden Sorte. Die Sechzigermarke hat er längst geknackt, sein Outfit mit den halblangen, zurückgekämmten Gel-Haaren, dem Poloshirt und der dicken Goldkette um den Hals sowie den drei massiven Siegelringen an seinen wurstigen Fingern könnte gut und gerne einem Tarantino-Film entstammen. Aber er brennt nach wie vor für seinen Job und für seine Produkte. Salbungsvoll legt er einen Metallkoffer auf das Tischchen, in welchem sich in aufgeklapptem Zustand, hübsch in Schaumstoffeinsparungen eingepasst, drei Plastikflaschen befinden. Er zählt auf, welche Institutionen (Alters- und Pflegheime, Hotels und medizinische Einrichtungen) in der Umgebung seit Jahrzehnten mit ihm erfolgreich gschäften würden und preist detailliert die Vorzüge seiner drei Putzmittel an. Der Patron zögert sichtlich – vielleicht auch aus verhandlungstaktischen Gründen –, sich zu früh auf eine fixe Vereinbarung einzulassen. Der Hausierer bemerkt dieses Abwägen rasch, stösst mit zwei drei träfen Anekdoten nach und versucht das Geschäft in die richtige Spur zu bringen. Nach einem zähen verbalen Ringen sieht er sich jedoch zur Kapitulation gezwungen, kann sich seine Niederlage aber noch nicht ganz eingestehen, wirft er doch verzweifelt seine letzten Köder aus: Er hinterlässt eine der drei grossen Flaschen als Probiererli sowie seine Visitenkarte mit der Bemerkung, dass man sich, falls man dies wünsche, auf jeden Fall «irgendwie finden» würde. Der Patron nickt dackelhaft-gutmütig, schüttelt gehorsamst das Pfötchen des Hausierers und entschuldigt sich, er müsse nun dringend ein geschäftliches Telefon erledigen, danke und uf Wiederluege.
Ich schaue mich jetzt etwas genauer im Restaurant um und komme nicht umhin, anerkennend zu konstatieren: «Prima die Dorfvibes aufgenommen, alle Achtung!» Während man die Wände, die Täferdecke sowie die alten Sichtbalken mit einer gelungenen dezenten Kombi aus aschgrauer und weisser Farbe bepinselt hat und durch indirektes Licht stilvoll zu inszenieren weiss, siehts bei der Möblierung schon wieder ganz anders aus. Die Tische sind mit einem grausligen braunen Holzlaminat verkleidet, bei den Stühlen kann man sich nicht zwischen den klassischen schwarzen Beizenstühlen (im Schankraum – in Kombi mit den Tischen etwa so passend wie Barbie in einem Jurtendorf), bestofften, loungeartigen Sesseln (Gastronomie Mittelteil) und mit hellgrünen Kissen belegten Langbänken (Gastronomie hinterer Teil) entscheiden. Während man im Vorderteil auf Spots hinter Milchglasscheibe setzt, hängt man den Mittelteil mit verspielt-versetzt aufgehängten, anthrazitfarbigen Drahtleuchten voll, um dann zuletzt zuhinterst mit drei Kronleuchtern ein bisschen Shabby-Chic-Style reinzubringen. Die knallorangen aufgestellten Servietten konkurrieren dann nicht schlecht mit dem mit petrolfarbenen Platten beklebten Schanktisch und dessen goldenen Gläserhaltevorrichtungen um die Aufmerksamkeit der Gäste. Man sieht auf einen Blick, dass hier bei der kostspieligen Renovation ein sicher ordentlich entlöhnter Innenarchitekt Regie geführt haben muss. Dieser scheint aber bei der Suche nach Inspiration nicht viel weiter gekommen zu sein, als bis zu einem in flottem Tempo durchgeblätterten Livique-Katalog. Wie die Menukarte ausgesehen hat, können Sie sich jetzt vielleicht selbst vorstellen. Landgasthofklassiker wie Rösti mit Saucisson finden sich da ebenso wie eine Auswahl an Pizzen oder der modernen Allzweckwaffe namens Salatbowl. Diese wiederum gibt es in verschiedenen hip-lüpfigen Formen, angereichert mit Longevity-Garanten wie gerösteten Kichererbsen, gekeimten Brokkolisprossen oder Granatapfelkernen.
Ich habe jetzt sehr intensive Kopfschmerzen und flüchte mich deshalb in die nahe gelegene katholische Dorfkirche, die von aussen aussieht wie so ein…, so ein…, so ein…. ja, was denn? So wie ein klobiges Ding eben. Nachdem ich das Handy nun doch aktiviert und durch das Internet erfahren habe, dass der Sichtbeton-Sakralbau 1932/33 «praktisch ohne Maschinen, dafür mit viel Handarbeit und Muskelkraft» erbaut worden war, erklärt sich mir das Sandeliburgartige dieses Baus von ganz alleine. Man sollte aber, wie beim Menschen auch, nie automatisch von der Schale auf das Innere schliessen, denn dieses überrascht mich bei diesem Gotteshaus doch sehr positiv. An der Decke sitzen äusserst hübsch arrangierte, wabenförmige Strukturen und der ganze Raum ist in einem fröhlichen, von grün zu blau wechselnden Farbverlauf gehalten, der mich in Gedanken sofort ans Mittelmeer trägt. Als sich die schwere Eingangstüre hinter mir schliesst, ist es plötzlich beinahe still. Ich bin ganz alleine und setze mich auf eines der verstreut auf den Kirchenbänken liegenden Häkelkissen. Nach 75 Uchaï-Atemzügen bin ich da, wo mich diese Nervensystemregulationspraxis bei genügend aufgebrachter Geduld zuverlässig hinführt: im Entspannungsmodus. Ich sende ein ausdrückliches Dankeschön gegen oben und mache mich auf in eine Seitenstrasse, wo ich mich bei jemanden in eine neue Form der Therapie begebe. Danach geht es mir 48 Stunden lang so gut wie schon lange nicht mehr. Heisst auch: Egal wie du aussiehst, liebes kleines Dorf im Freiburgischen, jeder hat eine zweite Chance verdient. Du folglich auch. Wir sehen uns also wieder.